Gattungen
PRGermanistik2021-01-04T10:50:14+01:00Werner Michler und Paul Keckeis über ihren neuen Band zu Gattungstheorie
… und darüber, was das Schnabeltier mit dem Epos und Netflix mit Literatur zu tun hat

Viele von uns haben in der Schule gelernt, dass es drei Gattungen gibt: Lyrik, Epik, Dramatik. Ist das wirklich alles?
„Das kommt darauf an“, wäre eigentlich schon die ganze Antwort … Lyrik, Epik und Dramatik sind alte, traditionsreiche Gattungsnamen, die bis heute als Oberbegriffe für die literarischen Gattungen verwendet werden. Wenn man genauer hinsieht, gibt es diese Dreierformel „Lyrik-Epik-Dramatik“ gar nicht so lange, sie wird erst um 1800 herum formuliert. Aber es gibt für die Gattungen eigentlich keine überhistorische, logische Beschreibungssprache; Gattungen sind keine Erfindung der Theorie, sondern gehören zum künstlerischen Voraussetzungssystem: Wie lang soll der Text werden, den eine Autorin schreibt, was ist das Thema, welches Publikum soll angesprochen werden, in welche Tradition soll sich der Text einreihen usw. Man kann also für bestimmte künstlerische Situationen Gattungsnamen finden; und wenn die Situationen selbst ganz neu sind, muss man auch einen neuen Namen für sie finden. So entstehen auch immer wieder neue Gattungen; und zwar nicht nur in der Literatur, sondern auch in der Musik oder im Fernsehen, auf Netflix usw.
Ihr beide forscht seit vielen Jahren zu Themen rund um die Gattung und habt heuer, 2020, in der Reihe Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft einen Band zur Gattungstheorie veröffentlicht. Was enthält der Band, und nach welchen Kriterien erfolgte eure Auswahl?
Es gibt viele Themen, die in der internationalen Gattungsdiskussion eine zentrale Rolle spielen, im deutschsprachigen Raum aber oft nur am Rand wahrgenommen werden. Wir haben unseren Band deshalb als einen Beitrag zur Internationalisierung der deutschsprachigen Gattungsdiskussion konzipiert; mit einer Ausnahme – der Text von Peter Szondi stellt einen Zusammenhang mit der deutschen Romantik her, eine etwas unvermutete Basis für die dekonstruktivistischen Ansätze in der Gattungstheorie – enthält der Band deshalb ausschließlich Beiträge aus der internationalen, insbesondere französischen und angloamerikanischen Diskussion. Die Texte, die wir ausgewählt haben, nehmen immer wieder selbst aufeinander Bezug und dokumentieren zwei Phasen (um 1980 und nach 2000), die für die neuere Gattungsdiskussion besonders prägend sind. Es war uns außerdem wichtig, nicht nur literaturwissenschaftliche Perspektiven miteinzubeziehen, sondern auch Beiträge aus der Sprachwissenschaft, der historischen Kulturwissenschaft bis hin zu den television studies zu integrieren.
Bücher schreiben bzw. zusammenstellen ist oft ein mühsamer Prozess: meistens ist man mit dem Vorwort mindestens 6 Monate im Rückstand, und auf den Fahnen stehen plötzlich Tippfehler, die man unmöglich übersehen haben kann. Aber was war euer schönster Moment in der Arbeit am Band?
Es gab eigentlich viele schöne Momente, die schönsten beim gemeinsamen Übersetzen. Wir haben sieben Texte aus dem Englischen bzw. Amerikanischen selbst übersetzt, d.h. wir haben diese Texte Wort für Wort und Satz für Satz durchgearbeitet. Dabei kann man nicht nur sehr viel lernen, es ist eben auch besonders schön, gemeinsam an Texten zu arbeiten.
In der Biologie gibt es die – wenig appetitlich klingende – Gattung der Kloakentiere, der neben den Ameisenigeln auch das Schnabeltier angehört. Als eierlegendes Säugetier mit namensgebendem Schnabel und Biberschwanz ist es zwar eigenartig, aber auch ganz schön faszinierend. Was ist denn euer persönliches Schnabeltier unter den literarischen Gattungen?
Werner: Gut, dass du das Schnabeltier nennst – das seine eigene Schönheit hat und ja nur Menschen eigenartig vorkommt. (Was sagen die Schnabeltiere eigentlich über uns? Das wollen wir gar nicht hören.) Für Darwin war das Schnabeltier ein lebendes Fossil, aus der Zeit der Evolution gefallen. Ich mag literarische Gattungen, die nicht zeitgemäß sind, ‚nicht mehr passen‘, mit denen ‚es vorbei ist‘ und die trotzdem noch da sind, mühsam, lästig, ein wenig lächerlich, unpassend, aber ihr eigenes unzeitgemäßes Potenzial bewahrend. Das Versepos zum Beispiel, ‚anachronistisch‘ seit vielen Jahrhunderten (wie vielen eigentlich?). Aber hat nicht der karibische Dichter Derek Walcott vor allem für Omeros 1992 den Nobelpreis erhalten? Und hat nicht ein Versepos 2020 den Deutschen Buchpreis gewonnen – Annette, ein Heldinnenepos von Anne Weber, über die französische Résistancekämpferin Anne Beaumanoir?
Paul: Das „Tagebüchelige“; das ist eine Gattung, die Robert Walser erfunden hat; es ist nicht wirklich ein Tagebuch, man muss es zB nicht datieren, aber es funktioniert ganz ähnlich; man kann im „Tagebücheligen“ über sich selbst nachdenken, aber das Entscheidende ist, dass man sich unbedingt über sich selbst lustig machen muss.